Darßer Ort: Auf Ewig versandet

Seit dem Mauerfall ist der Nothafen Darßer Ort Streitthema und sorgt für Schlagzeilen. Mal darf gebaggert werden, mal nicht. Warum der Hafen so im Fokus von Seglern, Seenotrettern und Umweltschützern steht

Auszug aus segeln 10/2012

Es ist der Abend des 29. Augusts 2011. Dieter Clasen und seine Tochter Inga kämpfen sich mit ihrem Neun-Meter-Boot Brummer durch die aufgewühlte See der Ostsee. Die Brummer ist ein umgebautes Rettungsboot mit einem 50 PS Motor und beinahe unverwüstlich. Dieter Clasen hat volles Vertrauen in sein Schiff. Seit dem frühen Aufbruch von Rügen nahm der Wind immer weiter zu. Der Wetterbericht hatte für den Tag vier bis fünf Windstärken angekündigt, doch jetzt wehen den beiden neun Beaufort entgegen – Sturm. „Vor uns, hinter uns, neben uns: ich habe nur noch Wasser gesehen“, beschreibt Clasen das Schlingern in den Wellentälern.

Nach Rundung der Nordspitze des Darß trifft sie die geballte Macht der See. Die 50 PS reichen nicht aus, sich ausreichend freizuhalten. Schlimmer: Brummer wird immer weiter unter Land gedrückt. Das Boot liegt auf Legerwall und droht am Weststrand des Darß zu stranden. Clasen handelt rasch, wirft noch im Brandungsgürtel den Anker und möchte den Sturm vor Anker abwettern. Doch die Sorge um seine Tochter, die schwer seekrank ist, lässt ihn die Situation überdenken. Die DGzRS-Station Darßer Ort wird kontaktiert und der Rettungskreuzer Theo Fischer läuft umgehend aus, um die beiden abzubergen. Kurze Zeit später können Vater und Tochter bereits an Land medizinisch betreut werden.

Schon in den Monaten zuvor musste die Theo Fischer von Darßer Ort aus immer wieder ausrücken, um Menschen aus Seenot zu befreien und Menschenleben zu retten. Und doch mussten die Seenotretter 2012 den Hafen verlassen – die Fahrrinne war zu stark versandet.
Die Rangeleien um den Nothafen Darßer Ort stehen symptomatisch für das Verhältnis zwischen Naturschutzverbänden und Seglern, das beinahe schon intrigante Züge aufweist: Umweltverbände beschließen hinter geschlossenen Türen Schutzmaßnahmen, üben Druck auf die Politik aus und Segler stehen plötzlich vor vollendeten Tatsachen – über die sie nicht richtig informiert werden.

Die unter Naturschutz stehende Küste des Darß ist seit Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für maritime Notfälle und teilt die Seglerwelt auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer noch in Ost und West. Da es zwischen Warnemünde und Barhöft keinen Hafen gibt, scheuen viele Segler den 50 Meilen-Sprung von oder nach Rügen oder warten auf eine stabile Wetterlage. Der direkte Weg führt um die Nordspitze des Darß. Um dieses Kap müssen alle Segler herum, die nicht die Ausweichroute über das dänische Gedser gehen wollen. Denn vor Gedser verläuft die Kadetrinne, die täglich von circa 200 Tanker- und Containerschiffen durchquert wird – das Nadelöhr der Ostsee. Die Route um den Darß ist attraktiver, aber auch länger. Und bei widrigem Wetter fehlt an dieser Stelle ein sicherer Hafen. Die Nordspitze des Darß bringt auch die typische Eigenschaft eines Kaps mit: den Kapeffekt. Der Wind passt sich dem Verlauf der Küstenlinie an, ändert seine Richtung, und nimmt sogar zu. In Lee des Darß entstehen so Wirbel, die ein ruhiges, sicheres Ankern unmöglich machen. Bei Weststurm ist der Bereich um den Nothafen keine geschützte Leeküste und eignet sich daher auch nur bedingt, um einen Sturm vor Anker abzuwettern. Durch seine exponierte Lage kommt es daher immer wieder zu Seenotfällen am Darß.

Am 2. Mai 2011 verliert eine polnische Yacht auf einem Überführungstörn von Holland nach Polen bei sieben Windstärken ihr Ruder und wird auf die Sände am Darß gedrückt. Die Yacht läuft auf, doch die vier Besatzungsmitglieder können innerhalb weniger Minuten durch die Besatzung der Theo Fischer abgeborgen werden, sodass niemand verletzt wurde.

Am 10. Juli 2011 bricht ein Skipper an Bord seines 30 Fuß-Schiffes auf Höhe des Darßer Ortes zusammen. Seine Frau alarmiert umgehend den Rettungskreuzer, der innerhalb weniger Minuten längsseits gehen und den bewusstlosen Skipper abbergen kann. Im Nothafen Darßer Ort wartet bereits ein Notarzt, der die medizinische Betreuung des Mannes übernimmt.

Am frühen Morgen des 5. November 2011 reißt an Bord des Fischkutters Falke der Keilriemen, und der Kutter treibt bei Nebel manövrierunfähig in der Nähe des Darß auf See. Ablandiger Wind treibt den Kutter immer weiter hinaus – in die Nähe der Kadetrinne. Die beiden Berufsfischer setzen auf Kanal 16 einen Notruf ab, der Rettungskreuzer ist innerhalb von 20 Minuten vor Ort, nimmt sie in Schlepp und kann Schlimmeres verhindern.

„Von den 43 Einsätzen unserer Station Darßer Ort galten 37 der Freizeit- und sechs der Berufsschifffahrt“, kommentiert Christian Stipeldey der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) das Jahr 2011 am Darßer Ort. „Oft vermeidet die DGzRS den Eintritt bedrohlicher Situationen durch frühzeitiges Handeln auf kurzen Wegen,“ führt er fort.

Im März 2012 musste die DGzRS allerdings bekannt geben, dass sie den Seenotkreuzer Theo Fischer aus dem Nothafen Darßer Ort abziehen muss. Die schmale Einfahrt war so versandet, dass der Kreuzer so eben noch aus dem Hafen auslaufen konnte. Stattdessen wurde das wesentlich kleinere Seenotrettungsboot Stralsund nach Darßer Ort verlegt. Durch das Fehlen des Seenotkreuzers auf der Station Darßer Ort entsteht zwischen den Stationen Warnemünde und Sassnitz auf Rügen eine Sicherheitslücke von 80 Seemeilen, die durch die vorübergehende Stationierung der Theo Fischer in Barhöft nicht gefüllt werden kann. Zwar ist die Lücke zwischen Warnemünde und Barhöft nur noch 50 Seemeilen groß, doch die Anfahrtszeit zur Kadetrinne hat sich verdreifacht.

Der Hafen Darßer Ort liegt aus seemannschaftlicher Sicht an einer idealen Stelle auf halber Strecke zwischen Warnemünde und Rügen und bezeichnet die nördlichste Landspitze der Route. Außerdem ist der Hafen nach Westen, der vorherrschenden Windrichtung, hin geschützt, sodass er mit einem ausreichend betonnten Fahrwasser auch bei widrigem Wetter angelaufen werden kann. Angesichts dieser entscheidenden Punkte sollte eine Ausbaggerung des Hafens zum Schutz der Seefahrt oberste Priorität haben.

Doch der Nothafen Darßer Ort ist seit 20 Jahren ein Zankapfel zwischen Naturschutzorganisationen und maritimen Interessenverbänden, denn er liegt mitten im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, der 1990 als einer der letzten Beschlüsse der DDR-Regierung eingerichtet wurde.

Einen weiteren Höhepunkt erreichte das Gerangel im August 2012:
Das Ministerium für Energie, Infrastruktur und Landesentwicklung des Landes Mecklenburg-Vorpommern wies im August an, die Fahrrinne am Darß auszubaggern. Eine Klage des WWF und BUND wurde in erster Instanz abgewiesen und für die Baggerarbeiten wurde grünes Licht gegeben. Doch kurze Zeit später brach der Bagger die Arbeiten ab und zog sich vom Darß zurück.

Was war passiert? Während das Ministerium für Infrastruktur und Landesentwicklung darum kämpfte, die notwendigen Baggerarbeiten durchführen zu lassen, wurde nach Aussage des Sprechers des Umweltministeriums, Matthias Saretz, das übliche Zählintervall einer Vogelzählung in einem Monat auf eine Zählung alle drei Tage verkürzt. Tagelang zählten die Mitarbeiter Vögel, bis sie schließlich eine stattliche Zahl, von mehreren hundert verschiedenen Vögeln auf ihren Listen hatten. Darunter: Möwen, Schwäne, Haubentaucher und Enten. Größtenteils Standvögel. Da jedoch auch verschiedene Seeschwalben und Alpenstrandläufer gesichtet wurden, ging es jetzt schnell: Die beobachteten Vögel seien ein Indikator für den bereits begonnenen Vogelzug. Das Urteil: Die Baggerarbeiten müssen sofort gestoppt werden, um die Vögel nicht zu stören oder gar zu vertreiben – Der Bagger zog ab und hinterließ eine kaum angetastete, noch immer versandete Fahrrinne. Ob ein Experte in Form eines Ornithologen in den Entscheidungsprozess involviert war, ließ das Ministerium uns gegenüber offen.

Lässt sich also behaupten, dass der Umweltschutz an dieser Stelle Menschenleben gefährdet? „Die Politik am Darß ist menschenverachtend“, klingt es selbst aus den Reihen der Besatzungsmitglieder an Bord der Seenotkreuzer, die bei politischen Statements sonst immer sehr zurückhaltend sind. Das Umweltministerium wollte sich segeln gegenüber zu diesem Punkt nicht äußern und ließ die Frage unkommentiert – ein Blick über den Tellerrand des eigenen Ministeriums wird lieber nicht riskiert.

„Es tut uns natürlich leid für die Seenotretter, aber ein Hafen an dieser Stelle ist aus Naturschutzgründen ein Unding!“, äußert sich der Naturschutzbund WWF, Betreiber des Nothafens Darßer Ort. Seit der Wende bemüht sich der WWF um eine Alternative zum ehemaligen Militärhafen. „Es geht uns in erster Linie nicht um die Vögel“, kommentiert Jochen Lamp des WWF-Projektbüro-Ostsee den Naturschutz am Darß, „es ist der Ort in Deutschland, an dem man Geologie live erleben kann. Das regelmäßige Ausbaggern des Hafens zerstört den Landprozess am Darß vollkommen.“

Von den Rangeleien um den Nothafen Darßer Ort bekommen Tausende Camper einige hundert Meter südlich des Hafens nichts mit. Auf einem der größten deutschen Campingplätze kann seit Jahrzehnten gelacht, geweint, getrunken, gesungen und ins Meer gepinkelt werden, während Segler nur im Notfall den Hafen anlaufen durften und am besten keinen Fuß an Land setzen sollten. „Der Campingplatz westlich von Prerow stellt durchaus eine Belastung für den Nationalpark dar. Die Nutzung durch einige Tausend Camper jährlich birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial,“ räumt auch Matthias Saretz vom Umweltministerium ein. „Jedoch ist dieses nicht zu vergleichen mit dem dramatischen Eingriff in die natürliche Küstendynamik.“ Warum der Aufenthalt einiger Segler in der Vergangenheit immer misstrauisch beäugt wurde, bleibt offen. Schließlich buddeln Segler für gewöhnlich nicht ganze Landschaften um.

 

Seit 2012 wurde der Nothafen wieder regelmäßig ausgebaggert – nicht ohne Auseinandersetzungen zwischen Interessenverbänden und Umweltschützern. 2013 wurde ein Durchstich zum Bodden als Hafenalternative mehrstimmig abgelehnt. In einem Bürgerentscheid 2015 gab es endlich einen Konsens: eine Inselhafen-Lösung bei Prerow soll die Posse um den Nothafen Darßer Ort endgültig beenden. Bis zur Inbetriebnahme 2019 sollte der Nothafen regelmäßig ausgebaggert werden, wenn die Zufahrt wieder versandet. Ende April 2017 buddelte sich ein Baggerschiff erneut durch die Fahrrinne, um die Zufahrt für den Nothafen freizubekommen. Kaum waren die Arbeiten Anfang Mai abgeschlossen und das Leuchtfeuer mitsamt Tonnen in Betrieb, hieß es einige Tage später, dass der Hafen wieder geschlossen sei. Die Fahrrinne war bereits wieder zu flach – der Rettungskreuzer saß vor dem Hafen bereits auf. Was genau passiert sei, konnte noch niemand sagen. Laut einigen Berichten wird vermutet, dass der Bagger nur im Fahrwasser gebaggert habe, aber die Seiten außer acht ließ. So sollen neue Sandmaßen wieder in die Rinne gerutscht sein. Wie jetzt weiterverfahren wird, bleibt offen. Denn jetzt brüten die Vögel am Darß und deren Ruhe darf nicht durch Baggerarbeiten gestört werden.

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